„Fahren für Blinde“: Wenn Sehbehinderte das Steuer übernehmen

 |  von Marie Holm

Die 14-jährige Annalena findet Schaltfahrzeug besser - Fotos: Thomsen

Flensburg – Gas geben, Kupplung kommen lassen, Anfahren am Berg – all das ist für viele Jugendliche der erste Schritt Richtung Führerschein. Seit 2004 ermöglicht der Verkehrsübungsplatz in Flensburg, bekannt unter dem Motto „Fahren ohne Führerschein“, erste Erfahrungen hinter dem Steuer – ganz legal, ganz sicher. Doch am Freitag (31. Oktober 2025) stand dort eine ganz besondere Aktion auf dem Programm: Blinde und sehbehinderte Menschen durften selbst ein Auto lenken.


Hanno war vom Angebot, dass Blinde fahren können begeistert

Was für viele als alltägliche Selbstverständlichkeit erscheint, bleibt Menschen mit Sehbehinderung normalerweise verwehrt. Doch dank einer eindrucksvollen Initiative erhielten nun 23 blinde und sehbehinderte Teilnehmerinnen und Teilnehmer – begleitet von Fahrlehrern – die Möglichkeit, selbst ein Fahrzeug über den Übungsplatz an der Schleswiger Straße zu steuern.


Auch Rückwärts einparken wurde geübt
„Natürlich immer mit einem Fahrlehrer an der Seite – alles andere wäre unverantwortlich“, sagt Heiko Thomsen, Geschäftsführer des Übungsplatzes, mit einem Schmunzeln. Unterstützt wurde das Projekt von mehreren lokalen Fahrschulen, darunter die Fahrschule Ebel, die Günthers Fahrschule, die Fahrschule Ingo Jessen sowie die Fahrschul Academy. Sie stellten nicht nur ihre Fahrzeuge, sondern auch ihre Lehrkräfte zur Verfügung – und das an einem Feiertag.


Hin und wieder wurde es knapp, aber dazu wurden ja zum Üben Fahrschulwagen verwendet
Die Aktion stieß auf überregionale Resonanz. Teilnehmer reisten unter anderem aus Hamburg, Hemmingstedt, Buxtehude und sogar Stuttgart an. Die jüngste Fahrerin war gerade einmal 14 Jahre alt. Aufgrund der begrenzten Fahrzeuganzahl musste die Zahl der Teilnehmenden begrenzt werden, erklärt Thomsen, der zusammen mit dem Leiter des BSVSH Regionalstelle Flensburg Klaus Heide, das Event auf die Beine gestellt hat.

Ein besonderer Dank gilt dem Förde Park, der nicht nur seit Jahren den Verkehrsübungsplatz beherbergt, sondern auch diese Aktion „mit voller Überzeugung unterstützt hat“, so Thomsen.

Zwischen 10 und 15 Uhr drehten die Teilnehmenden unter strengen Sicherheitsvorgaben ihre Runden – stets in eine Richtung, um Risiken zu minimieren. Die Begeisterung war spürbar: Lächelnde Gesichter, aufmerksame Fahrlehrer, eine stille Spannung in der Luft.


Großen Dank galt den Fahrlehrern, die auf einem Feiertag nicht nur Autos sondern auch die Fahrlehrer zur Verfügung stellten
Für die Fahrlehrer selbst war der Tag ebenfalls etwas Besonderes. „Wir mussten nicht nur das Fahren vermitteln, sondern auch das Sehen übernehmen“, berichtet Michael von der Fahrschul Academy. Klassische Anweisungen wie „nächste links“ oder „rechts halten“ reichten nicht aus. Stattdessen kam ein analoges Uhrzeit-Modell zum Einsatz: „Drei Uhr“ bedeutete rechts, „elf Uhr“ entsprechend links. Auf den Armaturenbrettern klebten analoge Uhrenbilder, um die Orientierung zu erleichtern. „Das hat erstaunlich gut funktioniert“, ergänzt Kollege Mika. „Viele unserer Teilnehmer hatten deutlich mehr Gefühl fürs Fahrzeug als reguläre Fahrschüler.“


Fahrlehrer Olli Tralau fand die Aktion klasse und hatte reichlich zu tun
Auch Olli Tralau von der Fahrschule Ebel zeigte sich beeindruckt: „Die Resonanz war spitze. Die Teilnehmenden hatten richtig Spaß und viel Gefühl in den Händen und Beinen – einige hatten sogar schon früher mal ein Lenkrad in der Hand.“

Die jüngste Teilnehmerin, Annalena(14), war besonders begeistert. Nach ihrer ersten Fahrt meinte sie: „Ich fand Schaltung besser, da muss man mehr nachdenken.“ Auf die Frage, ob sie beim nächsten Mal wieder mitmachen möchte, antwortete sie ohne Zögern: „Ja, auf jeden Fall!“ Dass sie keinen Führerschein machen kann, findet sie „schon ein bisschen blöd“, doch der Tag gab ihr ein Gefühl dafür, was es heißt, selbst zu fahren – und damit auch Verständnis für den Alltag ihrer Eltern am Steuer.


Kate hat den Erste Hilfe Kurs bestanden und kann nun auch als Blinde Person anderen Menschen in Not helfen
Zu den Teilnehmerinnen gehörte auch Kate, 16 Jahre alt, aus Bargenstedt. Für sie war es das erste Mal überhaupt, dass sie selbst am Steuer saß. „Ich war ziemlich aufgeregt, aber ich habe mich auch sehr darauf gefreut“, erzählt sie. Von der Aktion erfuhr sie über den Landesförderverein für Blinde und Sehbehinderte.

Fahren wollte sie ein Automatikfahrzeug – und das ganz bewusst: „Das ist einfacher als ein Schaltwagen“, meint sie. Wie viel sie noch sehen kann, weiß sie nicht genau. „Das mit dem Sehverlust hat bei mir schon in der Schulzeit angefangen – es wurde dann immer schlechter.“ Heute kann sie kaum noch etwas erkennen. Dennoch war für sie klar: Diese Gelegenheit wollte sie nutzen.


Ninja nahm das Angebot selbst ein Auto zu Fahren dankend an
Zu den Teilnehmerinnen gehörte auch Ninja, 30 Jahre alt aus Eckernförde. Sie konnte als Kind noch sehen, verlor jedoch im Jugendalter nach und nach ihr Augenlicht. „Mit 15 war es ganz weg“, erzählt sie. Umso mehr bedeutete es ihr, am Steuer zu sitzen. „Ich bin Schaltwagen gefahren – und es hat super geklappt. Der Leerlauf war etwas schwierig zu finden, aber sonst hat alles gut funktioniert.“ Für sie ist klar: „Autofahren macht riesig Spaß, aber man muss auf sehr viel achten – ich habe jetzt viel mehr Respekt vor allen, die täglich fahren.“

Auch Katharina (36) aus Kiel kam dank einer WhatsApp-Gruppe auf die Aktion. „Ich sehe noch zwei bis vier Prozent – Umrisse, Farben. Aber ich wollte das einfach mal erleben, um endlich auch mal schlaue Kommentare vom Beifahrersitz geben zu können“, sagt sie mit einem Lachen.

Manuel (40) aus Buxtehude ist geburtsblind, sieht nur hell und dunkel – und hat das Fahren trotzdem genossen: „Ich bin da ganz ohne Erwartung reingegangen. Es ging mir um den Moment, das Gefühl, den Austausch.“ Auch er hatte früher schon einmal auf einem Feldweg gelenkt.

Bennet (21) aus Hemmingstedt testete Automatik und Schaltwagen. „Schalten war besser – da spürt man mehr. Ich sehe nur noch grobe Konturen auf einem Auge, aber das Erlebnis war super.“


Damit Martin selbst einmal Auto fahren kann, ist er extra aus Stuttgart angereist

Martin Schmallenbach reiste aus Stuttgart an. Der 48-Jährige ist geburtsblind und hatte noch nie selbst am Steuer gesessen. Als seine Freundin Moni ihn einlud, sagte er spontan zu. Vor dem Fahren war er nervös: „Ich will einfach mal spüren, wie es ist “.

Neben dem Fahrtraining gab es auch praktische Angebote: Lasse Andersen von ErsteHilfeAusbildungNord leitete einen Erste-Hilfe-Kurs speziell für blinde Teilnehmer. „Ich habe die Puppen so vorbereitet, dass man die Druckpunkte ertasten konnte. Die Teilnehmenden haben es großartig umgesetzt – da war kein Unterschied zu Sehenden.“

Auch kulinarisch wurden die Gäste bestens versorgt: Das Team von Ciao Bella steuerte das Essen bei – und wurde dafür durchweg gelobt.

Am Ende des Tages hatten alle eines gemeinsam: ein Lächeln im Gesicht. Die Teilnehmer fühlten sich ernst genommen, gesehen – und für einen Moment in einer Welt, in der Sehen nicht alles ist.


Kate fuhr natürlich, neben dem ersten Hilfe Kurs, auch ihre Runden über den Parkplatz
Die Fahrlehrer aller beteiligten Fahrschulen waren sich einig: Sie würden beim nächsten Mal sofort wieder mitmachen.

Fazit: „Fahren für Blinde“ ist weit mehr als ein PR-Projekt. Es ist gelebte Inklusion – mit Motorengeräusch, Menschlichkeit und einem klaren Blick für das Wesentliche.